1 Der Flussalte. 2 Wer von den Synja-Bewohnern kennt nicht das Heilige Kap und wošluχ (die Stadtbucht)? 3 Oberhalb des Dorfes mašow, dort wo der Fluss drei Biegungen macht, liegen, in den Elchsee hineingestreckt, zwei grosse bewaldete Landzungen. 4 Dieser See pflegt im Frühjahr derart gross zu sein, [dass] die Weidenbäume auf der anderen Seite kaum, kaum mit den Augen wahrzunehmen sind. 5 Zu dem Heiligen Kap und nach wošluχ kommen jedes Frühjahr die Synja-Bewohner, Speise- und Blutopfer darzubringen. 6 Die wohlhabenden Leute kommen Blutopfer darzubringen, die nichtwohlhabenden Leute kommen Speiseopfer darzubringen. 7 Der vorüberfahrende Mann stellt eine kleine Schale hin, der keine kleine Schale hinstellende Mann wirft [wenigstens] Geld [ins Wasser]. 8 In einem Frühjahr fuhr ich mit dem [Dorfsowjet-] Sekretär in Fischangelegenheiten durch die Dörfer. 9 Unerwartet kamen wir plötzlich nach wošluχ an die Opferstätte der Leute. 10 Vom Birkenkap fuhren wir auf den Elchsee. 11 Wind, Regen, Schnee, Nebel, nichts ist zu sehen! 12 Irgendwie krochen wir im Wind nach wošluχ. 13 Es hörte auf zu regnen und zu schneien. 14 Der Wind wurde derartig stark - der Elchsee [ist von dem Wellenschaum] gleichsam mit Möwen besetzt; die Wellen [sind] derartig gross, sie fallen hausdachhoch. 15 Wir kamen nach [dem Dorf] wošluχ, kein Mann ist zu Hause. 16 Welche Frau wir auch fragen, wohin die Männer gegangen sind - keine Frau atmet [auch nur] einen Atemzug (d. h. keine Frau sagt ein Wort)! 17 Während wir da so [suchend] herumgehen, begann eine Frau von der Flussquelle, ob sie sich auch sträubte, doch schliesslich die Rede: "Unsere Männer sind nach [der heiligen Stätte] wošluχ opfern gefahren." 18 Sie sagt zu uns: "Wenn [euch] die Männer nötig sind, kann euch ein Kind [dorthin] führen." 19 Wir sagen darauf: "Wir wissen, wo jeder Baum auf wošluχ steht! Ein Kind ist nicht nötig, wir fahren [selbst]." 20 Wir kamen dorthin zu der Opferstätte der Männer, landeten, verstauten unseren Kahn, unsere Ruder [und] das Sonstige ordentlich. 21 Als wir dorthin kamen, waren die angesehneren Leute [schon] angelangt, das kleinere Volk begann grade einzeln [und] paarweise anzukommen. 22 Wir kamen zu den Leuten, begrüssten sie. 23 Die opfernden Leute hatten ein grosses Feuer angemacht [und] sich um das Feuer liegend versammelt. 24 Jeder Mann macht seine Sache. 25 Der eine Mann macht Wurzelschnur, der andre Mann schneidet Spleissen [für die Reuse], der eine Mann schläft; der singende Mann singt, der Märchen erzählende Mann erzählt Märchen. 26 Drei grosse Kessel [sind] über dem Feuer aufgehängt. 27 Drei Rentierochsen, gross wie Pferde, [sind] an einem grossen Riemen aus Kuhleder an eine Birke angebunden. 28 In einem neuen rotbemalten vierfächrigen [Boot] sitzt der Flussalte: dick wie ein Mann, bekleidet mit den seit Menschenaltern gesammelten Seiden [-Tüchern und] mit einem guś-Pelz. 29 Die Sachen, die [dem Flussalten] anzuziehen nicht mehr Platz war, sind frei [auf die Erde] hingelegt. 30 Zu beiden Seiten wird er von zwei Männern bewacht. 31 Man darf nicht nahe an die Seitenmänner herangehen. 32 Ein dummes kleines Kind setzte sich auf die Spitze des Boots des Geister-Alten, wurde von den beiden Männern von dort weggeschleudert [und] rollte sich kullernd weiter. 33 Als wir ankamen, hatten die Leute vor langem [oder] vor kurzem [Opfer-]Geld [an die Bäume] angebunden. 34 An eine kleine Tanne [war] derartig viel Geld angebunden, [dass] ihre Zweige sich herunterbogen. 35 Nachdem man Geld angebunden hatte, wurden die [Speise-]Schüsseln hingestellt. 36 Während wir uns so umsehen, spricht der tʼotʼi-Alte: "Nun, Leute, man muss schamanisieren, einige von euch sollen sich schamanisieren setzen!" 37 Die Leute sagten wie aus einem Munde: "Der Sohn des kleinen Flussquellen-Philipp und tʼotʼi's Sohn sollen sich schamanisieren setzen!" 38 Obgleich sich tʼotʼi's Sohn sträubte, setzte er sich doch, vom Volk gezwungen, zum Schamanisieren. 39 Einer aus dem Volk lässt sich vernehmen: "Wie, was ist denn heute mit dir? An irgendwelchen anderen Tagen - [ob] du geheissen wirst oder nicht - setzt du dich, sofort bereit, gleich hin!" 40 Darauf sagt tʼotʼi's Sohn: "Die beiden Russen stehen da! Es wäre nicht schlecht, sie wegzuschicken." 41 Die Leute sagen: "Rühren die Russen dich etwa an? Sie stehen ruhig an ihrem Platz." 42 tʼotʼi's Sohn schamanisierte nun, schamanisierte, wandte sich zu dem Volk [und] spricht: "Leute! Ich habe die drei Rentiere nach drei Stellen geweiht: den gescheckten Ochsen habe ich den Alten des Heiligen Kaps geweiht; den weissen Ochsen habe ich dem Flussalten geweiht; den schwarzen Ochsen habe ich dem 'Alten unter den Füssen' geweiht. Ich bin nun fertig!", sagte tʼotʼi's Sohn. 43 Der Sohn des kleinen Flussquellen-Philipp setzte sich auch zum Schamanisieren, schamanisierte so lange, wie ein Kessel zum Kochen braucht. 44 Mit denselben Worten spricht er, wie tʼotʼi's Sohn sprach. 45 Nachdem der Sohn des kleinen Flussquellen-Philipp fertig geworden war, nahm man die Schüsseln; nachdem man die Schüsseln genommen hatte, nahm man das getrocknete Fleisch. 46 Man schickte sich an, die Rentiere [zu schlachten und] zu enthäuten, tʼotʼi's Sohn drängt sich mit einem Fuchsfell-Bündel des Geistes (des Flussalten) durch das Volk nahe an die Rentiere heran. 47 Er hebt nun sein Fuchsfell-Bündel über den Hals des Rentiers. 48 Jedesmal, wenn er es hochhebt, ruft er betend zum Himmel(sgott) hinauf. 49 So wie er ruft, rufen auch die anderen Leute. 50 Die Rentiere wurden nun zum Schlachten fertig gemacht. 51 Vor dem Schlachten rief man siebenmal zum Himmel(sgott) hinauf. 52 Nachdem die Rentiere ganz enthäutet (nackt) worden waren, wurden die heiligen Bäume mit Blut besprizt; auch der Flussalte wurde im Gesicht mit Blut beschmiert. 53 Die drei grossen Kessel wurden nun übers Feuer gehängt. 54 Man teilte rohes Fleisch aus; [als] der Kessel fertig wurde, teilte man gekochtes (Kessel-) Fleisch aus. 55 Von rohem Fleisch erhielt jeder Mann drei Stücke, von gekochtem Fleisch erhielt er vier Stücke. 56 Wer wenig zu essen pflegte, erhielt genug; wer viel zu essen pflegte, stand so wie vorher ungesättigt auf. 57 Die Sonne wurde ganz niedrig. 58 Die abgezogenen Felle wurden alle nahe vor den Flussalten, die Köpfe nach einer Seite, gelegt. 59 Nachdem man die übriggebliebenen Schüsseln genommen hatte, wurde die Zaubertrommel angewärmt, śańka spricht: "Nun, Leute, die Zaubertrommel ist fertig; wer wird sie schlagen?" 60 Das Volk sagte wie aus einem Munde: "Der Philipp-Alte aus owoləŋ soll sie schlagen!" 61 Der Philipp-Alte setzte sich, die Trommel zu schlagen, kima sagt: "Du bete zu den Geistern! Sie sollen so gut sein, sie sollen uns [von hier] weglassen! Wann wird der Wind aufhören? Wann wird der aufsteigende Fisch kommen, bald oder später (langsam)? Werden wir im Sommer Fische fangen oder nicht? Sind die von uns dargebrachten Rentiere dem Flussalten genehm gewesen oder nicht? Bis wir ein zweitesmal wieder hierher kommen, mögen wir gesund leben!" 62 Der owoləŋ'er Philipp-Alte schickte sich nun an zu schamanisieren. 63 Er beginnt ein Schamanenlied zu singen, hört wieder auf, beginnt wieder ein Schamanenlied zu singen, hört wieder auf. 64 Schliesslich begann er das Schamanenlied. 65 Der Philipp-Alte schamanisierte so, schamanisierte, wandte sich zu dem Volk. 66 Die Leute sagen: "Nun wie, was sagen deine Geister (Leute)?" 67 Der Philipp-Alte sagte: "[Ob] der Wind übermorgen aufhört oder nicht, ist nicht klar. Der aufsteigende Fisch ist etwa bis Ob-dorsk gekommen." 68 Der spleissenschneidende Mann hörte mit dem Spleissenschneiden auf, der wurzelschnurmachende Mann hörte mit dem Wurzelschnurmachen auf; alle [sind] stumm, nicht der geringste Laut! 69 Ein Mann lässt sich darauf aus dem Volk vernehmen; "Was [ist denn] Schlechtes, genau zu sagen, wann der Wind aufhört?" 70 Auf diese Worte hin stand der owoləŋ'er Philipp-Alte wie ein nichts wissender Mann auf [und ging weg]. 71 Sechs, sieben Männer setzten sich [nun] zu schamanisieren. 72 Alle sprechen sie unsicher: "[Ob] der Wind übermorgen aufhört oder nicht, ist nicht klar!" 73 Nachdem alle mit dem Schamanisieren fertig geworden waren, wurde der Flussalte von zehn Mann irgendwie zum Ufer hinuntergeschleppt. 74 Nun schwimmt das [schwerbelastete] vierfächrige Boot grade noch über der Wasseroberfläche. 75 Der nächste Tag brach an. 76 Als wir morgens aufstanden, war beim Sonnenaufgang erst die Röte hochgekommen. 77 Nun rennen die Frauen, das Essen bereitend, wie kleine Flöhe hin und her. 78 Die Männer versammeln sich wieder irgendwo. 79 Die Böden ihrer Geldbeutel hatten sich vom Suchen nach Silbergeld abgenutzt! 80 Dort und hier rufen Männer, Silbergeld suchend. 81 Nun laufen die Frauen, wegen des Silbergeldes in Klemme gebracht, wieder wie kleine Vögel hin und her. 82 Jeder Mann hat sich nach seinem Vermögen angezogen; der nicht besitzende Mann hat sich von anderswoher auf eine Weile [Kleider geliehen und] angezogen. 83 Die Sonne war kaum hoch gekommen oder nicht, [so] standen die Männer auf [und] gingen alle auf einmal los. 84 Dort und hier klopfen die Männer an den Booten. 85 Nicht lange, [so] hatten sie sich versammelt. 86 Nach einer Stunde etwa war jeder Mann an seinem Platz. 87 Der sich in einen grossen Kahn setzende Mann setzte sich in einen grossen Kahn, der sich in ein fünffächriges Boot setzende Mann setzte sich in ein fünffächriges Boot. 88 Wohin jeder wollte, dorthin setzte er sich. 89 Wohin sie alle Mann sich versammeln, ist uns beiden [dunkel] wie eine finstere Herbstnacht. 90 Der Sekretär rief: "Jegor, komm mal hierher, es ist etwas!" 91 Der Sekretär fragte Jegor: "Wohin versammelt ihr euch alle Mann?" 92 Daraufhin sagte Jegor etwas lachend: "Du weisst doch sicher, wohin sich die Synja-Bewohner in diesen Tagen, sobald die Morgenröte hochkommt, versammeln!" 93 Der Sekretär bohrt wie ein nichts wissender Mann immer weiter. 94 Schliesslich erhielt er zur Kenntnis, was er wissen wollte. 95 Die Leute setzten sich nun [in die Boote und] ruderten so um die Wette fahrend los; nur fünfmal fuhren sie auf dem See herum. 96 Nachdem sie weggefahren waren, ging ich mit meinem Freund, Unterhaltung suchend, längs des Ufersandes bis zu der Pfeilschiess-Lärche. 97 Als wir uns der Pfeilschiess-Lärche näherten, hört man, wie jemand vom Wasser her uns zuschreit: "Ihr vom Satan nicht tot zu kriegenden blutigen Herzen, warum seid ihr an die heilige Stätte gekommen, wer hat euch hierher gebeten an die heilige Stätte?" 98 Wir gehen wie nichts wissende Leute immer weiter. 99 Er schrie, schrie, schliesslich ging die Kraft aus. 100 Dann hört man, jemand spricht wieder: "Kommt ihr heute etwa nach Haus - eure elenden Köpfe mögen von Hunden herumgezerrt werden!" 101 Die Spitze des Kahns berührte kaum das Ufer oder nicht, [da] sprang der owoləŋ'er Philipp-Alte sofort ans Ufer. 102 Sechs, sieben Mal lief er vor und zurück. 103 Er ging eine Lassolänge weit, blieb stehen. 104 Flussarm-Leute, kommt ihr alle ans Ufer mir nach, stellt euch in einer Reihe zu je einem Mann auf! 105 Die Leute [waren] nun sofort bereit, als ob sie das auch erwartet hätten. 106 Der owoləŋ'er Philipp-Alte schreit den Flussarm-Leuten zu: "Habt ihr alle Geld oder nicht? Wenn einer keins hat, soll er von anderswoher nehmen!" 107 Wer ein geldbesitzender Mann [war], [der] sagte nicht ein Wort, warf drei Fünfkopekenstücke hin; wer nicht [Geld] besass, nahm von jemand anderem auf Borg und warf [es] hin. 108 Der Philipp-Alte sagte: "Kommt mir in einer Reihe nach! Wohin ich trete, dorthin tretet auch ihr! Wer nicht auf meine Worte hört, den schicke ich sofort nach Hause." 109 Der Philipp-Alte verwarnt die Leute: "Denkt nicht, [dass es] hier etwa so wie in wošluχ [ist]! Nicht eine Graswurzel, nicht einen Strauchzweig darf man zerbrechen!" 110 Nun reihten sich die Flussarm-Leute hinter dem Philipp-Alten wie ein Seil an, gingen so aufs Ufer hinauf. 111 Diese Sache blieb so. 112 Wir beide gingen darauf zurück. 113 Als es dunkelte, [sieht man:] zwischen den Seewellen werden fünf grosse Kähne auf- und niedergetragen. 114 Sie kamen näher heran: [es sind] wettfahrende Leute. 115 Die Synja-Leute fahren mit den Flussarm-Leuten um die Wette. 116 Die Flussarm-Leute haben sich zu zehn Mann, zu dreissig Mann in einen Kahn gesetzt. 117 Die Kähne sind unten an den Spanten mit [über Bord geschlagenem] Wasser bedeckt. 118 - Die Abendröte näherte sich nun wieder dem Erlöschen. 119 Jeder Mann begann seine Sache zu machen. 120 Wer Wurzeln nötig hatte, ging in den Wald Wurzeln holen; wer Spleisslärchen nötig hatte, ging Spleisslärchen zu schlagen. 121 Der Karten spielen gehende Mann ging Karten spielen, der Reifen werfen gehende Mann ging Reifen werfen, der schläfrige Mann legte sich schlafen. 122 Während wir beim Essen sassen, kam nemli ('Namenlos') rasch durch die Tür herein. 123 Ich rief hinter ihm her: "Hallo, nemli, komm mal her, ich habe ein Wort [mit dir zu reden]!" 124 Er drehte sich sofort um, [ob] er gerufen wurde oder nicht, "nemli, setz dich, setz dich essen!" 125 Er [ist] sofort bereit [wie ein hungriger] Mann im Frühjahr. 126 Gevatter, hast du nicht irgendein kleines Märchen? Erzähle nur, die Nacht vergeht dann schon vergnügt! 127 Die Reihe kam an ihn, ein Märchen zu erzählen. 128 Ich sagte: "Gerade ein Märchen zu hören, [habe ich] keine Lust. Wenn du jetzt von deiner Fahrt zum Heiligen Kap erzählen würdest, wie wäre das?" 129 Ich begann ihn nun zu fragen. 130 Was mir nötig war, fragte ich alles. 131 Einmal fragte ich - er liest mir gleichsam ein Buch vor. 132 Alle geheimen Dinge insgesamt erzählte er. 133 nemli begann nun zu erzählen. 134 "Ich bin zum allerersten Mal zum Heiligen Kap gefahren. Wie die Leute zum Heiligen Kap fahren, war mir bis zum heutigen Tag [dunkel] wie eine finstere Herbstnacht, wenn ich nicht heute gefahren wäre. 135 Wir kamen dorthin, sofort wurden wir Flussarm-Leute abgesondert zur Seite gesetzt. 136 Zuerst setzten wir uns hin, jeder Mann warf je einen halben Rubel [als Opfer] hin. 137 Auf dem Heiligen Kap machten wir Flussarm-Leute nichts, unsere Sache [war] nur dazusitzen. 138 Die Synja-Leute zündeten Feuer an, hackten Holz, trugen Wasser, bereiteten Essen, teilten Fleisch aus, banden [für uns] unsere Stoffstücke [an die Bäume] an. 139 Uns war es nicht erlaubt, eine Graswurzel, einen Baumzweig zu bewegen. 140 Unsere Sache [war] nur, den ganzen Tag die Hände gefaltet dazusitzen. 141 Wenn sich jemand von seinem Sitzplatz ein wenig zur Seite bewegt - sofort wirst du bemerkt, wirst [wieder] hingesetzt. 142 Wenn du Wasser trinkst, musst du auch in die Schöpfkelle zwei, drei Fünfkopekenstücke werfen. 143 Wenn du die Pfeife im Feuer anzündest, musst du auch ins Feuer vier, fünf Fünfkopekenstücke werfen. 144 Was du nur anfasst, für alles ist Geld nötig! 145 "Mit leerer Tasche zum Heiligen Kap zu fahren, ist unmöglich. Als ich (zuerst) hinfuhr, stand meine Tasche von dem Silbergeld wie ein Korb ab, jetzt sind hier nur zwei Fünfkopeken-stücke übriggeblieben. Im Laden von Jamkurt hatte mein Vater dreissig Rubel Silbergeld gewechselt, alles [Geld] hatten wir drei Männer nach vielen Stellen geworfen. Jetzt ist zu Hause nicht ein Stück Brot mit dem Zahn zu beissen da; womit [wir] Brot kaufen [sollen], ist unklar! 146 "Morgen [früh, wenn] es dämmert oder nicht - die Männer, die die [Opfer-] Rentiere mitgebracht haben, werden nun rasch [ihr] Geld einfordern. Auf jeden Mann sind 40 Rubel gekommen; womit [sie] bezahlen, ist unklar! Wie sind die Alten von der Art des owoləŋ'er Philipp-Alten? Sie reissen einem die warme Zunge heraus! Wenn du kein Geld gibst, da ist es auch schlimm, vielleicht wird er [dir] eine Krankheit anzaubern. Wenn du [nur] ein wenig gegen ihn angehst, wird er [dir] wie eine schimpfende Möwe sofort eine Krankheit anzaubern. Wenn du garnichts besitzt, [dann] zieh für ihn deine Hosen aus, er hat kein Mitleid!" 147 Ich fragte: "Wieviel Rentiere habt ihr zum Heiligen Kap gebracht?" 148 - "Fünf weisse Ochsen, sieben gewöhnliche Rentiere." 149 Ich fragte wieder: "Wohin habt ihr die abgezogenen Felle gebracht?" 150 - "Zwei kohlschwarze Felle haben wir für den 'Alten unter den Füssen' in die Erde gegraben, ein Fell haben wir ins Wasser versenkt, drei Felle haben wir aufgehängt. Die übrigen Felle wurden von den Leuten gekauft." 151 Ich fragte: "Wer schamanisierte und wieviel Männer schamanisierten?" 152 - "Allerlei [Leute] schamanisierten, beinahe sind es an die zwanzig Mann." 153 - "Was sagen die Leute, die schamanisiert haben?", fragte ich; "wird der Wind bald aufhören oder später?" 154 - "Sie haben keine vernünftige Meinung, schwatzen auf verschiedene Weise. Die einen sagen, der Wind hört morgen auf, die anderen sagen, er hört übermorgen auf. So schwatzen sie auf verschiedene Weise, man weiss nicht, wem [man] glauben [soll]. Ich wollte zwar über Nacht Spleissenlärchen schlagen gehen - [aber] vielleicht hört morgen der Wind auf [und] man muss abfahren. Gestern in wošluχ machte jeder das Seine, was er auch grade hatte. Auf dem Heiligen Kap sitz nur den ganzen Tag da, die Hände an die beiden Ohren gestemmt!" 155 Während wir so schwatzten, dämmerte die [kurze] Frühsommerfischfangs-Nacht. 156 Die Sonne kam in die Höhe der Baumwipfel. 157 Wir standen auf, gingen beide nach zwei verschiedenen Seiten. 158 Während die Sonne heiss wurde, begannen die Leute allmählich alle aufzustehen. 159 Die Männer, die die Rentiere mitgebracht hatten, hatten ihre Augen kaum aufgemacht (aufgerissen) oder nicht - wer ihnen auf dem Weg grade begegnete, den zwangen sie Geld zu bezahlen. 160 Dort und hier rufen Männer, Geld suchend. 161 Eine (Kessel-) Stunde war vergangen oder nicht, [auch] auf der anderen Seite des Flusses hörte man einen solchen Lärm, die ganze Erde dröhnt nur so. 162 Nun wurden die armen Leute, die kaum gegessen hatten, stehenden Fusses zusammen berufen. 163 Der heischende Mann streckt dort und hier seine Hand aus, [sein] Geld fordernd. 164 Man trieb das Geld ein. 165 Wer ein Geld besitzender Mann [war], sagte nicht ein Wort, gab [das Geld] sofort hin. 166 Der Birkenrinde besitzende Mann gab seine Birkenrinde, der Eichhörnchenfelle besitzende Mann gab Eichhörnchenfelle. 167 Wer ein in den Wald gelassenes Ding (d. h. Rentier) besass, dachte an sein in den Wald gelassenes Ding. 168 Was jeder besass, das gab er. 169 Wer kein in den Wald gelassenes Ding besitzt - woran soll er denken? 170 Der eine Mann hat nur seine zwei Hände herunterhängen - was gibt er? 171 Der andere Mann hat nicht ein Stück Brot mit dem Zahn zu kauen, was [soll er] denn die Opferung [der Rentiere] bezahlen? 172 kima ruft:, "Hallo, nemli, komm hierher, bezahl Geld!" 173 nemli ist mit dem Fischreste-Suppen-Kessel nicht fertig, was [ist ihm] da das Geldbezahlen! 174 Wie ein nichts wissender Mann löffelt er immer weiter seine Suppe [und] spricht so vor sich hin: "Quatscht ihr irgendwo weiter weg!" 175 Er spricht, so dass man es bis hierher hört: "Ich werde grade kommen, ohne dass ich bis ins Innere meiner Suppenschüssel gelangt bin! Wenn ich bis auf den Boden (Bauch) dieser Suppenschüssel gelange, weiss man nicht, wann dieser [lange] Frühsommertag vergeht." 176 Schliesslich wurden sie müde zu warten. 177 Ein zweiter Mann wurde geschickt, nemli zu rufen. 178 Der abgesandte Mann kam zurück (hierher) [und] sagt: "nemli hat sich in seinen Fischreste-Suppen-Kessel gelegt, mit Mühe habe ich ihn herausgerissen." 179 nemli kam hierher, vollständig mit Suppe beschmiert, nur die Augen sind sichtbar. 180 Während nemli herankommt, sagt der owoləŋ'er Philipp-Alte überheblich zu den Leuten: "Kommt er oder nicht - was für Läuse wird er geben!" 181 nemli sagte: "Ja was denn! Was aufzuheben habt ihr mich in dieser Weise gerufen? Wenn ihr irgendwas aufzuheben habt, so hebt ihr Leute, zahlreich wie ein Heer, es [doch] selber auf!" 182 Der Philipp-Alte schreit daraufhin, sein Zahnfleisch kauend: "Rede (atme) nicht hier, was für ein reicher Herr! Deinetwegen soll man zehnmal bitten gehen!" 183 nemli sagt: "Was reizt du [mich] so sehr! Reich - ja reich [bist du], wer kennt dich nicht! Du hältst mich für einen reichen Mann - reiche Leute essen etwa zu dieser Zeit einen Fischreste-Suppen-Kessel? Während du [gutes] gefrorenes Fett [und] Rückenfett kaust, kauen andere Leute etwa auch gefrorenes Fett [und] Rückenfett?" 184 Der Philipp-Alte schreit: "Nun, gib, gib Geld! Bell nicht wie ein Hund! Auf dich wartend sind wir müde geworden." 185 - "Du siehst doch, ich habe nichts, was soll ich geben! Wenn du es nicht glaubst, sieh [doch] meine Kleider an!", flüstert nemli etwas ängstlich. 186 Der Philipp-Alte sagt: "Wer hat dich [so] nackt ausgezogen? Warum ziehst du nicht mehr an?" 187 nemli sagt: "Du vielleicht, ein reicher Mann, ziehst so ein [feines] Kleidungsstück an, was für ein Tag auch kommt. Was hast du denn für Not? Gestern hast du auf dem Heiligen Kap irgendeinem Mann zwei, drei Stück Fleisch gegeben, dafür bringst du uns jetzt wegen des Geldes in die Klemme. Der aufsteigende Fisch ist da [oder] nicht - wenn der aufsteigende Fisch da wäre, würdest du in den See hineinrudern, vier, fünf Netze ins Wasser auswerfen - eine kleine Kahnladung Fische würde sich vielleicht fangen!" 188 Der arme nemli flieht zwar, bis zum Winter zu warten - wie wird aber der Philipp-Alte darauf hören! [Er spricht]: "[Eine] immer längere [Frist] bittet er! Hast du nicht, gib endlich!" 189 Schliesslich wurde nemli wütend, nemli zog seine Hosen aus, warf sie dem Philipp-Alten hin. 190 Da, nimm, wenn dir meine nissigen Hosen nötig sind. Ausser meinen nissigen Hosen habe ich nichts. Wenn ich irgendwas hätte, [wäre es da] etwa interessant, hier den ganzen Tag zu stehen? 191 Auf diese Worte hin sagt der Philipp-Alte: "Wenn du irgendwann mal wieder zu mir kommst, mich schamanisieren zu bitten, dann werde ich ein Wort mit dir zu sprechen haben!" 192 Daraufhin schritt nemli nahe heran: "Was hast du mir Gutes gemacht? Ich sehe wirklich nicht, wo die von dir vollbrachten guten Taten sind. Die von dir kaltgemachte erstarrte Tote liegt da. Wenn es nötig ist, grab sie aus! Deinetwegen habe ich den einzigen Rentierochsen, den ich besass, [zum Opfern] geschlachtet. Das [ganze] Frühjahr durch hast du zwar Nacht [und] Tag meine Frau gesund gemacht, [aber] kaum war dein Rücken hinter der Tür verschwunden, so fiel die Frau tot nieder." 193 Der Philipp-Alte, [hartnäckig] wie ein harter Ob-Stein, gibt nicht irgendwie nach. 194 Schliesslich schleuderte ihm nemli die einzige alte Axt, die er besass, hin. 195 Da, nimm, wenn dein gar zu gieriges Herz [danach] brennt! 196 Der owoləŋ'er Philipp-Alte sagte daraufhin: "Werden etwa durch deine Axt da dreissig Rubel gedeckt?" 197 nemli sagt: "Dein Herz soll nicht leiden! Wenn ich ein anderesmal noch etwas bekomme, gebe ich es dir auch." 198 Der Philipp-Alte stand ein wenig da, sprach, indem er nemli auf die eine Schulter klopfte: "Gevatter, wenn der aufsteigende Fisch gekommen ist, kommst du nicht vielleicht, um für mich mit 10 oder 6 (?) Netzen zu fischen?" 199 nemli stand ein wenig da, sagte: "Kommen - wie [soll ich] kommen! Um Fische zu fangen, soll ich etwa meinen Grossvater [aus dem Grabe] erwecken? Ausser der Ablieferungsnorm [für die Genossenschaft] braucht man [noch Fische], im Winter zu essen! Was hast du für Not, wenn du keine Wasserfische fängst? Auf dem Ural stürmt deine Rentierherde wie der Wind donnernd dahin, am Ob stürmt deine Pferdeherde, deine Kuhherde wie der Wind donnernd dahin! Wenn ich nichts aus dem Wasser (in die Hand) erbeute, kommt es im Winter direkt zum Hungertod." 200 Während nemli seine alte Axt hinschleuderte, sagte er: "Da, nimm du nur den Dreck der Leute! Irgendwann sollen sie [, diese Sachen, wieder zu mir] zurückkommen. Lange lebst du, kurz lebst du - zu einer Zeit, wenn deine Augen aus dem Hause mit den Eisenstäben herausblicken, wirst du vernünftig werden!" 201 nemli sagte, während er sich (mit dem Rücken) umwendete: "Du - leb du nur, ich - ich lebe auch. An einem nahen Ort soll man dich sehen, an einem fernen Ort soll man dich nicht sehen. Die von mir gesprochenen Worte sollen hier bleiben!", sagte nemli seufzend. 202 Während sie so stritten, begann die Sonne unterzugehen. 203 Während wir so leben, verging so der zweite Tag, verging so der vierte Tag. 204 Wir warteten zwar auf die Windstille, warteten - wurden wartend müde. 205 Peter lacht: "Bis es windstill wird, hat vielleicht der adoptierende Mann [schon] adoptiert, der ein Kind annehmende Mann [schon] ein Kind angenommen!" 206 Während er auf die Windstille wartet, hat der brotlos gewordene Mann kein Brot mehr, hat der fleischlos gewordene Mann kein Fleisch mehr. 207 Wer bei den bemannten Booten Fischreste-Suppe hatte, der Mann war gut [dran]! 208 Schliesslich ging auch die Fischreste-Suppe zu Ende. 209 Am zehnten Tag gegen Abend wurde der Wind etwas stiller. 210 Du fasst das Ruder an - das Ruder ist zerbrochen; du fasst das Boot an - das Boot ist zerbrochen; du fasst die Birkenrinden [-Matte des Zeltes] an - es sind nur Rindenstücke; du fasst die Zeltstange an - die Zeltstange ist zerbrochen! 211 Bei den (bemannten) Booten blieben keine unbeschädigten Gegenstände. 212 Nun an unserm elften Tage hörte der Wind schliesslich auf. 213 Ebendieser gestrige [stürmische] Elchsee ist gleichsam mit reinem Fett begossen. 214 Der Elchsee ist ganz [glatt] wie eine Schlafmattenstelle, nirgends ist eine Welle zu sehen. 215 Die zehn Tage lang von Hunger gequälten armen Leute laufen nun freudig atmend schnell hin und her. 216 Als die Sonne untergegangen war, fuhren die Kähne wie eine Ente mit ihren Jungen in den See hinaus. 217 Du blickst auf den Elchsee - überall ringsum Segelmasten, als ob Stangen in den Elchsee geschlagen wären. 218 Jeder fährt seinen Weg. 219 Die einen fuhren zum Fang des auf steigenden Fisches, die andern fuhren des aufsteigenden Fisches wegen nach laŋkiwoš (Eichhörnchenstadt), die einen fuhren des See- [fisches] wegen nach askurt (Obdorf), die ändern blieben, um mit dem Sommer-Fischzaun Fische zu fangen. 220 Die zuerst abgefahrenen Boote verschwanden hinter dem Heiligen Kap. 221 Die schwächeren Boote mühen sich noch in dem grasbewachsenen Uferwasser ab. 222 Zuletzt setzten wir beide uns in das Boot und fuhren ab. 223 Ich legte meine beiden Ruder hin, begann nun loszurudern. 224 Mein Auge schweifte so auf das Ende des Flusses zu: ein mit vier Männern bemanntes fünffächriges Boot schwamm zwischen den Weiden ganz langsam abwärts. 225 Wir warten zwar, dass es näher kommt - aber das fünffächrige Boot treibt nur an einer Stelle auf der Wasseroberfläche. 226 Schliesslich wurden wir müde zu warten, riefen dorthin: "Nein, wann hat man das gehört, das Boot da steht immerfort still! Man muss nachsehen, was mit dem merkwürdigen Boot los ist." 227 Wir begannen dorthin zu rudern. 228 Wie weit wir näher kommen, so weit fährt es weiter. 229 Während wir so fahren, gelangten wir schliesslich auf den See. 230 Auf dem ganzen See ringsum weisse Stoffstücke! 231 Die einen hatten Draht [ins Wasser] geworfen, die ändern hatten Bogen mit Geld geworfen; an die Kerben der abgeschossenen Pfeile waren Geld [und] Ringe gebunden, an die Bogensehnen war Draht gebunden. 232 "Vor welchem Teufel flieht ihr denn so?", fragte ich sie. 233 Das fünffächrige Boot liegt nun infolge der Schwere des Flussalten fast in gleicher Höhe mit der Wasseroberfläche. 234 Der Flussalte ist von dem Tau [wie] mit [weisser] Birkenrinde bedeckt. 235 Wir unterhielten uns ein wenig, [dann] ruderten wir beiden Bootsmannschaften nach zwei Richtungen. 236 Der Flussalte wurde für die Sommerzeit nach luχ-jor-kurt (Schaitan-Wirts-Dorf) gebracht, wir ruderten nach dem Dorf mašow.